Der lange Weg zur historischen Aufarbeitung

Der «Beobachter» hatte bei der Aufdeckung der Behördenwillkür, Inhaftierungen und Versorgungen und beim Anstoss der historischen Aufarbeitung eine entscheidende Rolle gespielt, um einen immensen politischen sowie öffentlichen Druck aufzubauen. Behörden, Administrationen sowie Politikerinnen und Politiker, hatten sich aus eigener Initiative nie für die Aufarbeitungen eingesetzt, denn die behinderten Karrieren und Wiederwahlen.

Mit ihrem Artikel «Ein dunkles Kapitel» rüttelten die beiden Beobachter-Redaktoren Dominique Strebel und Otto Hostettler Öffentlichkeit und Politik auf. Sie wurden für den Bericht mit dem renommierten Zürcher Journalistenpreis 2011 ausgezeichnet.

«Ein dunkles Kapitel»
Zürcher Journalistenpreis 2011
Beobachter-Dossiers «Administrativ Versorgte»

Der 10. September 2010: Ein historischer Meilenstein

Am 10. September 2010 entschuldigte sich Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf im Namen des Bundes bei ehemals administrativ Versorgten vor 1981 im Schloss Hindelbank.

Bis 1981 wurden Jugendliche und Erwachsene, die meisten aus der Unter- auch Arbeiterschicht genannt, ohne straffällig geworden zu sein, gegen ihren Willen, ohne richterliche Anhörung, ohne richterliches Urteil und ohne Rekurs-Möglichkeit, in «Arbeitserziehungs- bzw. Strafanstalten» auf unbestimmte Zeit «weggesperrt». Von einer Anhörung der Jugendlichen durch die damaligen Behörden wurde rigoros Abstand genommen! Dadurch wurden sie Opfer von menschenrechtswidrigen willkürlichen Behördenentscheiden, die sie zeitlebens verfolgten.

In ihrer Entschuldigungsrede wandte sich Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf direkt an die anwesenden Opfer administrativer Versorgung und sagte u.a.: An Ihrem Schicksal sind Sie nicht selber schuld.» Dann präsentierte Eveline Widmer-Schlumpf ihre Entschuldigung gegenüber den administrativen Internierten: «Ihre Geschichte lehrt uns, dass es Situationen gibt, in denen man fähig sein muss, einen Schritt nach vorne zu machen und zu versuchen, einen Teil der Vergangenheit wieder gut zu machen. Normalerweise entschuldigt man sich im privaten Rahmen. Manchmal ist es jedoch erforderlich, das im öffentlichen Rahmen zu tun.

Die Entschuldigung von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf vom 10. September 2010 im Schloss Hindelbank war der politische Anstoss für alle weiteren Massnahmen. Damit ist ein Prozess in Gang gekommen, in dem dieses dunkle Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte aufgearbeitet wurde bzw. nach wie vor wird.

Was es u.a. vor der öffentlichen Entschuldigung des Staates alles brauchte

Sitzungen von Betroffenen* u.a. mit Behörden und Politiker*innen
Schloss Hindelbank: 22.08.2008

Marianne Heimoz, Direktorin der Strafanstalt Hindelbank
Martin Kraemer, Vorsteher des Amts für Freiheitsentzug und Betreuung des Kt. Bern
Dominique Strebel, Beobachter-Redaktor

Eidg. Kommission für Frauenfragen (EKF): April 2009
Elisabeth Keller, Geschäftsführerin
Jacqueline Fehr, Nationalrätin SP
Dominique Strebel, Beobachter-Redaktor
Astrid von Stockar, SF1 Reporterin

Bundesamt für Justiz: 02.07.2009
Prof. Dr. iur. Monique Jametti Greiner und Vizedirektorin des BJ
Dr. iur. Felix Schöbi BJ, Privatdozent
Dr. iur. Schmid, Chef Fachbereich Zivilrecht und
Verantwortlicher für Vormundschaftsrecht

Bundesamt für Justiz: 16.11.2009
Prof. Dr. iur. Monique Jametti Greiner und Vizedirektorin des BJ,  
Vertretungen der KKJPD (Schneeberger), der SODK (Hanselmann), 
des Bereiches Vormundschaftswesen (Wyder), der EKF (Keller),
der Strafanstalt Hindelbank (Heimoz), Betroffenenvertreterin (Biondi)

Im seinem Büro: 11.2009
Christoph Neuhaus, Justizdirektor (SVP) des Kt. Bern

Bundeshaus Bern: 22.09.2009, 08.12.2009, 16.03.2010, 15.06.2010
Jacqueline Fehr, Nationalrätin (SP), Paul Rechsteiner, Nationalrat (SP)

Interpellation
30. April 2009 09.3440 Interpellation Administrativ versorgte Jugendliche. Moralische Wiedergutmachung
Nationalrätin Jacqueline Fehr setzte sich für die Aufarbeitung des Themas Administrativ Versorgter Menschen ein.  Sie reichte beim Nationalrat eine Interpellation ein mit dem Titel: "Administrativ versorgte Jugendliche. Moralische Wiedergutmachung"

Sicherung von Akten
8. Dezember 2009 Sicherung von Akten: Brief von NR Jaqueline Fehr an: SODK, EKJPD, VBK, BJ

Adoptionsgeheimnis
9. Dezember 2009 – 09.4107 Motion Adoptionsgeheimnis
 

Fazit: Der Gedenkanlass im Schloss Hindelbank am 10. September 2010 war ein wichtiger Wendepunkt im Prozess der historischen und politischen Aufarbeitung. Er bildete nicht nur den Anstoss mit dem Schuldeingeständnis des Staates für alle weiteren Massnahmen in der Aufarbeitung des dunklen Kapitels der Schweizer Sozialgeschichte, sondern dies führte zu einem Paradigmenwechsel im Umgang der Schweiz nicht nur mit den administrativ versorgten Menschen, sondern auch mit ehemaligen Verdingkindern, Heimkindern, Zwangsadoptierten, Zwangssterilisierten, Medikamentenversuche, usw. 

*Bis zur offiziellen Entschuldigung am 10. September 2010 im Schloss Hindelbank, gab es nur
ganz wenige Betroffene, die sich in der grossen Öffentlichkeit zu «Outen» wagten.

 

Klarstellung

«Zitat des Historikers Thomas Huonker».

Guido Fluri (Stiftung) hat mit dem jahrelang hart erkämpften Fundament des historischen Meilensteins der Schweizer Sozialgeschichte vom 10. September 2010 nichts zu tun. 

Der Gedenkanlass vom 11. April 2013

Eine weitere Gedenkfeier fand 2013 in Bern im Beisein von Bundesrätin Simonetta Sommaruga statt, die alle Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen einschloss. Im gleichen Jahr setzte der Bund einen Runden Tisch ein. Der Runde Tisch initiierte, begleitete und koordinierte von 2013 bis 2018 die Aufarbeitung der historischen, juristischen, finanziellen, gesellschaftspolitischen und organisatorischen Fragen im Zusammenhang mit den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.

Video der offiziellen Entschuldigung
Vortrag von Ursula Müller-Biondi DE (FR, IT)
Rede von Bundesrätin Simonetta Sommaruga DE

Buch «Weggesperrt» von Dominique Strebel

 

Spurensuche zu den Administrativ Versorgten: In seinem Buch beleuchtet der Journalist des Beobachters die Anerkennung des Unrechts aus der Sicht von 2010.

«Weggesperrt: Warum Tausende in der Schweiz unschuldig hinter Gittern sitzen»

Leseproben