Sehr geehrter Herr Alt-Fürsorger Wenger

Endlich hat sich die Blockade gelöst und ich kann schreiben. Endlich habe ich - wie ich glaube - den richtigen Anfang gefunden. Ich habe schon oft versucht, meine prägendsten Lebensjahre in Form einer Geschichte niederzuschreiben. Irgendwann sind meine auf Papier gebrachten Worte aber wieder versackt und ich habe jeweils aufgehört, an dieser Geschichte zu schreiben. Heute jedoch will ich mein Vorhaben zu Ende bringen. Es ist Geschichte und Brief an Sie zugleich, und es ist mir egal, was Sie damit oder daraus machen.

Wissen Sie, Herr Wenger, dass ich Sie ein Leben lang gehasst habe? Ja, sie lesen richtig, ich habe Sie gehasst und hasse Sie noch immer. Wir beide leben seit einiger Zeit auch wieder am gleichen Ort, weil ich vor vielen Jahren zurückgekommen bin in meine Heimatgemeinde. Vielleicht, weil ich vor der Vergangenheit nicht mehr davonlaufen wollte. Und heute bin ich noch da, weil ich als einziges Kind meine alte Mutter unterstützen will. Um da zu sein, wenn es dann zu Ende geht. Nur deshalb, denn geändert hat sich in diesem Kaff nicht viel. Immer noch bekleiden Menschen Ämter, die sie nie ausüben dürften, weil ihnen unter anderem jegliches Sachverständis und jegliche Empathie fehlt. Dieses Hier-Sein hat aber auch zur Folge, dass ich zuweilen Menschen begegne, bei deren Anblick sich mir der Magen zusammenkrampft. Bei deren Anblick mich die Vergangenheit ganz brutal einholt. Sie ist nach wie vor absolut präsent, meine Vergangenheit. Ganz selten kann ich sie ausblenden, und ich staune immer wieder, dass meine Vergangenheit mich so arg belastet. Selbst Psychotherapien verschafften mir keine Linderung. Die direkte Konfrontation mit einem Menschen, der mir nicht gut gesinnt war oder der über mich lästerte - oder es noch tut - lässt das vernichtende Feuer in mir extrem auflodern.

Die Erinnerung ist in mir unauslöschbar eingebrannt, nahezu immer präsent. Sie hat mein Leben bestimmt und viele Schwierigkeiten waren dadurch vorprogrammiert, weil die Massnahmen, die sie damals für mich als Jugendlichen für gut und notwendig befunden haben, mich eben nicht zu einem angepassten, in die Gesellschaft integrierten Menschen machten, sondern ein Leben lang zu einem Aussenseiter. Zu einem Andersdenkenden. Zu einem hoch sensibilisierten für Ungerechtigkeiten. Zu einem Leidenden.
Ich bin überzeugt davon, dass ich es Ihnen zu verdanken habe, dass ich (immer noch) häufig depressive Phasen durchlebe und seit frühester Jugend Medikamente einnehmen muss, um überhaupt lebensfähig zu sein. Und dennoch gibt es Tage, an denen sich Wut, Hass, vor allem aber eine unendliche Traurigkeit in mir breit machen, wie die letzten Tage wieder...

Allmählich werden Sie sich nun fragen, wer Ihnen da schreibt. Es soll vorerst genügen, wenn ich Ihnen verrate, dass meine Mutter zu dieser Zeit, von der ich hier schreiben will, Gemeindekrankenschwester war und Sie sozusagen ihr Vorgesetzter waren. Nur deshalb kam ich auch in die Mühle der Gemeindefürsorge. Oder anders ausgedrückt: in die Fänge Ihrer selbstgerechten, selbstgefälligen Massnahmen. Haben Sie überhaupt mitbekommen, dass wir ehemals administrativ Versorgten vom Bundesrat und vom Schweizer Staat in einer angemessenen «Gedenkstunde» im Gefängnis Hindelbank offiziell rehabilitiert wurden? Dass sich verschiedene Kantone sogar überlegen, Ehemaligen eine Entschädigung zu bezahlen? Als Wiedergutmachung! Ich denke schon, dass Sie davon gehört oder es gelesen haben, denn wir Ehemaligen waren doch eine zeitlang recht präsent in den Medien. Wissen Sie, woran ich da gedacht habe? Jetzt trifft dann ein Briefchen ein vom Alt-Fürsorger Wenger. Eine Art Entschuldigungsbrief, weil er sich noch an mich erinnert. Aber vermutlich hatten Sie zu viele Mündel damals, um sich noch an einzelne Schicksale zu erinnern.

Ja, ich bin sicher, dass Sie auch heute keine Minute daran zweifeln, irgendwann nicht das Richtige gemacht zu haben in Ihrem Leben. So jedenfalls kommen Sie mir vor, wenn Sie zufällig irgendwo forschen Schrittes an mir vorbeiziehen. Natürlich ohne mich zu erkennen.

Die Kindheit zum Übel meines Unglücks machen will ich nicht. Ich hatte eine gute Mutter, und Grossvater hatte ich sehr lieb. Im Nachhinein betrachtet hat mir ein Vater aber doch gefehlt, denn nie stand zum Beispiel ein Vater am Spielfeldrand des Fussballplatzes, der mich unterstützt, ja aufgrund meines Talents als Torwart sogar gefördert hätte. Nein, ich lernte in meiner Jugend nur männliche Bezugspersonen kennen, die mich massregelten. Und doch hatte ich auch Glück. So fand ich als Sechzehnjähriger auf Anhieb eine Lehrstelle, um meinen (damaligen) Traumberuf Koch-Konditor erlernen zu können. Voraussetzung dazu war allerdings ein Welschlandjahr, um mein Schulfranzösisch zu verbessern. Doch bereits in diesem Jahr ereilte mich das Schicksal. Ich erkrankte schwer an einer Lungentuberkulose, lag drei Monate im Spital und danach acht Monate im Sanatorium. Diese Zeit allein war bereits voll von prägenden Erlebnissen. Erlebnisse, aufgrund derer ich noch heute zu Ärzten nicht unbedingt auf Anhieb einen guten Draht finde. Schlimmer aber war damals sicher, dass ich meine Lehrstelle nicht mehr antreten durfte. Angeblich wegen des Mehlstaubes, der mir schaden könnte. Das hiess für mich totale Neuorientierung. Nur war ich ziemlich orientierungslos. Also entschied ich mich für eine überbrückende Handelsschule. Und Mutter besorgte mir sogar eine Lehrstelle als Kaufmännischer Angestellter. Aber bereits in der Handelsschule wurde mir klar, dass mir Büroarbeit eine zu trockene Materie war. Ich wollte etwas Kreatives lernen. Auf Umwegen kam ich dann auf den Beruf des Schriftsetzers, bestand die Aufnahmeprüfung und fand erneut eine Lehrstelle. Obwohl man mir attestierte, der beste Lehrling seit eh und je zu sein, hielt ich nur ein Jahr durch. Ich hatte aufgrund der aggressiven Behandlung der Lungentuberkulose gesundheitliche Schwierigkeiten, fand mich aber auch in der Schule nicht zurecht, weil ich mir mit zwanzig Jahren als Opa vorkam unter Sechzehnjährigen. Zudem hatten meine Kollegen bereits eine Lehre abgeschlossen und fuhren das erste Auto. Ich jedoch stand mit zwanzig Jahren gerade mal am Anfang meiner vierjährigen Ausbildung.

Ich weiss nicht, was da alles für Schwierigkeiten in mir rumorten, dass ich die Ausbildung nicht durchhielt. Sicher ist aber, dass mir zu dieser Zeit ein psychologisch geschulter «Förderer» und «Unterstützer» in sportlicher und beruflicher Hinsicht oder eben ein Vater gefehlt hat. Der «Schlendrian» riss ein, und immer öfters ertränkte ich meine Not - denn es war eine Not! - mit Alkohol. Zudem lag ich zuweilen meiner Mutter auf der Tasche und machte Schulden. Weil Mutter mit mir überfordert war, suchte sie Hilfe bei Ihnen - und die Massregelungen begannen. Sie wiesen mir Hilfsarbeiten zu. Zum Beispiel auf dem Bau, als Flaschenreiniger in der Brauerei oder als Regalauffüller in der Migros. Nie haben Sie mich gefragt, was ich denn noch tun oder ob ich andernorts meine Ausbildung fortsetzen möchte. Ich hatte einfach zu arbeiten und zu funktionieren. Und wenn ich das nicht tat, liessen Sie mich durch die Polizei suchen, wie einen Verbrecher verhaften und steckten mich für jeweils sieben Tage imSchlossgefängnis in eine Einzelzelle. Dies immerhin vier Mal. Soviel war vom administrativen Gesetz her erlaubt, wenn jemand kein Delikt begangen hatte. Das war ihr pädagogischer Ansatz als Sozialarbeiter! Aber ich funktionierte auch danach nicht, und weil ich keinen Weg fand und Ihre zugewiesenen Arbeiten für mich Demütigungen waren, griffen Sie noch härter durch.

Zwei Jahre verbrachte ich danach in Arbeitserziehungsanstalten, wobei ich anfangs noch wählen durfte, entweder in der Psychiatrie oder eben in einer Arbeitserziehungsanstalt untergebracht zu werden. Auf unbestimmte Zeit administrativ versorgt wegen liederlichem Lebenswandel. Ohne ein Delikt begangen zu haben. Der absolute Höhepunkt war jedoch, dass meine Mutter für meine damalige Versorgung noch bezahlen musste. - So lief das in der Schweiz damals noch. Was alles ich zusammen mit Kriminellen hinter Gittern erlebt habe, will ich hier nicht anfügen. Gewiss ist, dass ich durch diese fürsogerischen Massnahmen kein «besserer» Mensch wurde. Psychische Not lässt sich durch solche Massnahmen nicht aufarbeiten. Im Gegenteil. Die Massnahmen schürten Ohnmacht, Wut, Hass und ständig wiederkehrende Depressionen. Und ein lebenslanges Gefühl, ein Versager zu sein, denn solche Massnahmen machen einen noch sensibler und es wird nicht einfacher, seinen Lebensweg zu finden.

Ich kenne viele ehemalige administrativ Versorgte und heute rehabilitierte - wie schön! - und alle tragen an einer schweren Last. Das Ziel in Arbeitserziehungsanstalten war, durch Drill, Entbehrungen, Schläge, Haare- Kahlrasieren, Einzelhaft bei Wasser und Brot bei Verfehlungen oder anderem, den Menschen zu brechen. Ich kenne aber niemanden, der «gebrochen» worden wäre. Ich kenne nur seelisch verletzte, verstümmelte, zutiefst «beschädigte» Menschen. Mache haben ihren Weg nie gefunden. Lesen Sie das Buch «Anstaltsleben» von Carl Albert Loosli. Da finden Sie Aufzeichnungen, wie man mit Anstaltszöglingen umgegangen ist. Menschen wie Sie, Herr Wenger, sind mitschuldig an dieser schweizerischen Willkürherrschaft. Trotz allem bin ich etwas geworden. Ich habe als 25-Jähriger meine Schriftsetzerausbildung nachgeholt und mich bis zum gefragten Grafik-Designer weiterentwickelt. Und im Jahre 2000 habe ich mir noch eine Ausbildung zum eidg. dipl. Sozialbegleiter FA erarbeitet und bin jetzt daran, mich als Psychlogischer Berater auszubilden.

Das Soziale lag mir immer am Herzen, und in den letzten elf Jahren hatte ich endlich die Gelegenheit, Menschen wie Ihnen auch in der Praxis auf die Füsse zu treten.
Dass ich noch etwas geworden bin, ist aber nicht Ihr Verdienst. Ich habe lediglich Dinge realisiert, die ich schon immer vor Augen hatte. Es war ein steiniger Weg auf Umwegen, gespickt mit Demütigungen und Leiden, und er ist immer noch steinig und wird es bleiben.

Es grüsst Sie

Fabio Marmini