Der Willkür des Staates ausgeliefert

Nach über 40 Jahren kehrt Beat Krei- enbühl an jenen Ort zurück, wo er einen Grossteil seiner Kinder- und Jugend- jahre verbrachte, an die Nelkenstrasse 28 in Emmen. Früher als Kinderheim Sonnhalde genutzt, ist im Gebäude längst eine heilpädagogische Schule untergebracht. «Hier, in diesem Zimmer hab ich geschlafen.» Kreienbühl zeigt mit der Hand in Richtung oberste Etage. Im Haus, und überhaupt auf dem gan- zen Areal, habe sich, so der bald 61-Jäh- rige weiter, in all den Jahren wenig verändert.

Ob Küche, Speisesaal oder Spielplatz: Vieles hat die Zeit überlebt. So wirkt das Gebäude ältlich, und selbst an diesem sonnigen Sommernachmittag liegt etwas Melancholisches über dem Gelände. «An diesem Hang sind wir Ski gefahren. Den Vorplatz haben wir ab Ende No- vember bewässert, um auf dem Eis Schlittschuh zu laufen. Damals, während der harten Winter, war das noch mög- lich», erzählt der Rückkehrer.

Vater nicht gekannt

Hart waren zu jener Zeit nicht nur die Winter, sondern auch die Verhält- nisse für jene Menschen, die am Rande der Gesellschaft angesiedelt waren. Zu dieser Schicht zählte auch Kreienbühls Mutter Frieda und ihre drei Söhne Marcel, Beat und Rolf. Vater Josef, der sich als Gärtner durchs Leben schlug, war abgetaucht. «Den hab ich nie gesehen», sagt Beat Kreienbühl, der heute im Grossraum Bern lebt. Beat kam am 9. September 1952 zur Welt. Wenige Monate nach der Geburt verfügte die Gemeinde Emmen, das Baby sei der Obhut der Mutter zu entziehen. Fortan wurde der Kleine fremd betreut.

Eine Scheinjustiz

Solche administrativen Massnahmen waren in der Schweiz bis 1981 Usus (siehe Kasten). Der Zürcher Historiker Thomas Huonker, der sich seit Jahren unter anderem mit der Thematik der Schweizer Heim- und Verdingkinder wissenschaftlich auseinandersetzt, sagt: «Solche Entscheide fielen oft willkürlich. Ein Gerichtsentscheid war nicht nötig. Es herrschte eine administrative Scheinjustiz.» Die Situation änderte erst, als sich aus Juristenkreisen Widerstand aufbaute. Die Machenschaften waren mit der europäischen Menschenrechtskonvention nicht kompatibel.

Zu Kriminellen abgeschoben

Für Beat Kreienbühl kam der Wandel zu spät. Bis zu seinem 20. Altersjahr war er bevormundet. Im Abschlussbericht vom 11. September 1972 steht unter anderem geschrieben: «Man darf festhalten, dass sich der Bursche – entgegen den Befürchtungen des früheren Vormundes – erfreulich entwickelt hat, und es bleibt zu hoffen, dass er sich weiterhin bestätigen wird.»
Bevor Kreienbühl seinen Vormund jedoch abschütteln konnte, war er von der Sonnhalde in die Anstalt Bad Knutwil abgeschoben worden. Grund der Versorgung: «Frech und pflegelhaft», wie es im Entscheid von Ende August 1966 orthografisch falsch festgehalten ist. «Kurz vor Ende der Sommerferien wurde ich von der Polizei abgeholt und nach Knutwil verfrachtet», erinnert sich Kreienbühl mit Schaudern an jenen verhängnisvollen Tag. Während eines Jahres war der damals 14-Jährige in Gesellschaft mit Ladendieben, Autoknackern und Gewalttätern. «Ein Wunder, dass ich damals nicht auf die schiefe Bahn geriet.»
Mit den Heimkindern hatte der Staat wenig im Sinn. Historiker Huonker sagt: «Es wurde oft bewusst verhindert, dass diese Leute eine höhere Ausbildung absolvieren konnten.»

Keine anständige Ausbildung

Nicht anders erging es Beat Kreienbühl. Sein Berufsleben lang musste er sich durchhangeln. Oft auf Provisionsbasis angestellt, war er hohem Druck ausgesetzt. «Heute», sagt er, «bin ich gesundheitlich ein Wrack». Seit einem Jahr ist Kreienbühl ohne Job. Die RAV- Tage sind gezählt. Wie weiter? «Werde ich nun zum Sozialfall?», fragt er sich. Und auf die Zeit nach der Pension kann sich das ehemalige Heimkind auch nicht wirklich freuen. 139 189 Franken – das ist Kreienbühls bescheidenes Pensionskassenguthaben. «Durch die Bevormundung und die Heimaufenthalte wurde mir der Zugang zu einer anständigen Ausbildung verwehrt. Mein Leben lang schleppe ich diesen Rucksack mit mir herum», resümiert er. Wie zig tausend andere Geschädigte fordert auch Kreienbühl vom Staat nicht nur eine Entschuldigung für das angetane Leid, sondern auch eine materielle Entschädigung. Diese Meinung vertritt auch Huonker: «Es darf nicht sein, dass ein relativ reiches Land wie die Schweiz unter den Standard anderer Staaten fällt.» In Irland wurden Entschädigungen bis zu 300 000 Euro bezahlt.

Text: Thomas Heer, Zentralschweiz am Sonntag